Werke
Kein unbeschriebenes Blatt
Der in Mecklenburg lebende ungarische Kunstmaler LEHEL KOVÁCS ist in Rostock kein unbeschriebenes Blatt: Der 1974 in Rumänien geborene Künstler wurde in den letzten beiden Jahren in Gruppenausstellungen der GOLDWERK GALERIE vorgestellt („Sinnflut“ 2021, „Unschärfe“ 2022); zudem arbeitet er auch als Kunstdozent an der Designakademie Rostock. Lehel Kovács ist Mitglied des Künstlerbundes Mecklenburg-Vorpommern wie auch der der Nationalvereinigung der Ungarischen Künstler.
Jenseits der Grenzen der Hansestadt kennt man die Kunst von Kovács: Seine Gemälde sind unter anderem in Wien, Salzburg, Neu-Delhi, Rom, Mailand, Straßburg, Katwijk, Cluj-Napoca, Budapest, Pécs, Szeged und Baia Mare ausgestellt. Seine Werke verteilen sich auf verschiedene ungarische und slowakische öffentliche Sammlungen sowie mehrere Privatsammlungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei. Internationale Kunstmessen, Einzelund Gruppenausstellungen zeigten seine Arbeiten, im Laufe seiner bisherigen Karriere wurde sein
künstlerisches Schaffen mit acht Preisen ausgezeichnet.
Abstrakte Oberflächen mit realistischen Motiven | Wucht und Poesie
Seit 2015 lässt sich eine radikale Erneuerung in der Malerei des Künstlers beobachten, denn Kovács wandte sich vom Genre des Landschaftsbildes ab: Fortan kennzeichnen eine expressivere Pinselführung, eine starke Farbgebung sowie eine Kombination von abstrakten Oberflächen mit realistischen Motiven das künstlerische Schaffen.
„Wir sind es nicht gewohnt, die Liebe zur Malerei mit so elementarer Kraft in der Pinselführung und Vision eines zeitgenössischen Malers, in der vorimpressionistischen Formulierung des Erfassens des Anblicks zu sehen.“
(János Schneller)
Ausgangspunkte sind vor einer Wand stehende Objekte. Das mag wie eine relativ einfache Formel klingen, doch in den Bildern von Kovács findet etwas Magisches statt, denn die Eindeutigkeit der Räumlichkeit wird hinterfragt, reale und abstrakte Dimensionen scheinen ineinander überzugehen, zusammenzugehören – und auch wieder nicht.
Wir sehen zum einen großzügig gemalte Farb- und Strukturfelder, in ihnen sind zum anderen sehr präzise, detaillierte, hyperrealistische, geradezu plastische Objekte platziert. Sie sind jedoch nicht losgelöst, sondern haben Charakter, wecken Emotionen und ziehen in den Bann.
„Die Hintergründe seiner Bilder haben sich mit der Zeit entwickelt und sind zu Hauptmotiven geworden, während die Objekte im Vordergrund, anstatt ihre Präsenz zu betonen, ihren temporären, banalen, flüchtigen Charakter betonen.“ (János Schneller)
In einem Atemzug, in einem Blick, in einem Bild sind sowohl Ungegenständlichkeit als auch Realismus dargestellt und vereint, ebenso allgemeingültige Motive und individuelle Abstraktion, Trostlosigkeit und Einsamkeit zusammen mit Ästhetik und Schönheit. Das erschafft die erwähnte Magie, denn diese Art der Malerei und das Spielen mit den abstrakten und realistischen Momenten haben Wucht und Poesie zugleich – wie schon der Ausstellungstitel erahnen lässt: „Fragment mit Taube“.
„Die Malerei wird als eine Art eigenes Geschichtenerzählen interpretiert.“
(Brigitta Muladi)
Rede zur Ausstellungseröffnung – János Schneller, Budapest
Lehel Kovács
Fragment mit Taube – Galerie Goldwerk, Rostock
Ausstellungseröffnung Samstag, 14. Oktober 2023, 11 Uhr
Als ich ein Kind war, stand in unserem Wohnzimmer auf dem alten Biedermeierschrank auf einem Sockel aus Kirschholz ein menschlicher Schädel, so merkwürdig das auch klingen mag. Mein Bruder und ich betrachteten ihn mit einer Mischung aus Angst und Neugier, wagten aber nicht, ihn zu berühren. Später, als wir uns daran gewöhnt hatten, stießen wir manchmal mit einem Besenstiel auf den Kieferknochen, der federnd und leicht schwimmend befestigt war. Später wickelte meine Mutter den morbiden Gegenstand in eine Plastiktüte und stellte ihn in die Speisekammer – mit der Begründung, dass wir nicht mit dem Schädel eines Toten leben sollten. Schließlich, wenn ich mich recht erinnere, wurde der Schädel, der aus dem Nachlass eines Onkels meines Vaters zu uns kam, in einem Biologielabor untersucht. Das einsame Relikt konnte niemals Teil unserer Wohnung werden. Er wirkte wie ein Fremdkörper, ohne Kontext, in dem gemütlichen Wohnzimmer voller Bücher, alter Möbel, Teppiche und Bilder. Gleichzeitig bewunderten wir ihn, hatten Angst vor ihm, waren verwirrt von ihm und lachten manchmal über seine Absurdität. Ich verstehe bis heute nicht genau, warum meine Mutter dachte, dass dieser seltsame Gegenstand in unser Wohnzimmer gehörte. Schließlich war es weder ein Artefakt noch ein Familienandenken oder ein Dekorationsstück. Wir hatten keinen persönlichen Bezug zu ihm. Es war ein Fremdkörper in unserer Familie, an den wir uns nie gewöhnen konnten.
Um 2015 tauchen in Kovács’ Gemälden die ersten Solitärobjekte auf. Zuvor hatte er sich mit den zeitgenössischen Möglichkeiten des Landschaftsgenres auseinandergesetzt. Zwar haben die in der Landschaft auftauchenden Objekte den Betrachter auch schon in seinen früheren Gemälden überrascht, da sie zum Teil in starkem Kontrast zu dem zu erwartenden Grundton bzw. der zu erwartenden Stimmung des Bildes standen. Um 2015 hat sich der Künstler jedoch von der Landschaftsdarstellung verabschiedet: An die Stelle des weiten Horizonts und des Blicks in die Ferne treten die Nahsicht, der enge Bildausschnitt und die flächige Komposition. Die naturalistische Darstellung alltäglicher Gegenstände auf gemusterten oder abgenutzten Oberflächen lädt den Betrachter in eine sehr persönliche, fast intime Situation ein. Die dekorativ aufgeraute Flächigkeit des Hintergrundes und die plastisch ausgearbeitete Form der Gegenstände stehen in einem so starken Kontrast, dass die Illusion entsteht, der dargestellte Gegenstand sei gar nicht Teil des Bildes, sondern als separates Objekt auf der Bildebene platziert. Mit diesem Spiel des Trompe l’oeil, also der „Täuschung des Auges“, lockt der Künstler, wie in der antiken Geschichte von Zeuxis und Parrhasius, den Betrachter in die Nähe des Bildes, so dass er, wenn er sich in Reichweite des Objektes befindet, erkennt, dass alles, was er sieht, nur eine Illusion ist. Kovács‘ scharfsinnige, fast hyperrealistische Figuren sind so unbegleitet, so einsam wie der alte Totenschädel aus meiner Kindheit auf dem Schrank – sie gehören weder zur Welt des Bildes noch zu seinem Rezipienten. Obwohl sie Teil des Bildes sind, haben wir das Gefühl, dass die schattenlosen Formen im Niemandsland zwischen Bildebene und Rezipient schweben. Weder in ihrer Thematik noch in ihrer Bildhaftigkeit stehen sie in Beziehung zum ungegenständlichen Hintergrund und sind aufgrund ihrer Gegenständlichkeit unzugänglich. Als wären sie zu perfekt, um lebendig zu sein, und zu lebendig, um ein Präparat zu sein. Sie sind unpersönlich, wie Illustrationen in einem biologischen Album, und einsam, als würden sie ihr Leben in einem Käfig fristen. Ihr übertriebener Realismus hindert sie daran, zu Symbolen zu werden, auch wenn ihre symbolische Natur es ihnen nicht erlaubt, diese kulturellen Bezüge (Olivenzweig, Taube, Lamm) völlig loszuwerden. Woher kommt diese Isolation, woher kommt die entfremdete Einsamkeit der Figuren?
Der Mensch beobachtet die Natur, ordnet sie ein, untersucht sie und nimmt sie in Besitz. Der menschliche Blick verändert die Natur, weil er sich radikal von ihr unterscheidet. Aber in dem Moment, in dem er sie berührt, beschmutzt er sie und bricht ihren Zauber. Paradoxerweise verliert er bei dem Versuch, ihr ihre Einzigartigkeit zurückzugeben, gerade das Wesentliche, das er einfangen wollte: meistens er ertrinkt in falschem Kitsch oder übertriebenem Realismus.
Das Genre des Stilllebens entstand mit dem Aufkommen des europäischen Bürgertums und erfreute sich in der Blütezeit der niederländischen Malerei größter Beliebtheit. In diesem Genre konnte nicht nur der Auftraggeber seinen Reichtum und seinen Sinn für Schönheit zur Schau stellen, sondern auch der Maler sein malerisches Können unter Beweis stellen und sein Publikum in Erstaunen versetzen. Gleichzeitig atmet das Stillleben stets den Hauch des Todes: Die leblosen, aus ihrer natürlichen Umgebung herauspräparierten Gegenstände erinnern an den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Mensch und Natur. Das gilt auch für die Bilder von Kovács: Memento mori, gedenke des Todes, des Vergehens!
In den neuesten Bildern von Kovács wird die Flächigkeit des Hintergrundes durch die kräftigen, fast rauen Farben der übereinander gekratzten Flächen ersetzt. An die Stelle von Mauern treten abstrakte, übereinander gelegte Streifen aus dichten Farbschichten. Sie eröffnen räumliche Tiefen. Die Gesamtwirkung ist fragmentarisch und vielschichtig, so wie das menschliche Gedächtnis, aus dem die Fragmente der Erinnerung nur zum Teil wieder abgerufen werden können. Sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht ist es nicht schwer, eine Parallele zwischen den dynamischen abstrakten Bildern von Gerhard Richter und den zerstörten Kompositionen von Kovács zu ziehen. Wie die Originalansicht von Richters Birkenau-Zyklus sind auch die Stillleben von Lehel Kovács dekonstruierte Bilder, deren Hintergründe aufgelöst sind und nur noch Fragmente und Farben an die ehemals vorhandenen Harmonien erinnern. Nur die Liebe zur Malerei, die Freude am Ausreizen der Möglichkeiten des Materials und der Technik, also der Maler selbst und seine malerische Tätigkeit, kann die Spannung zwischen dem rauen Hintergrund und der voll ausgearbeiteten Figur auflösen. Schließlich ist das Gemälde nicht einmal der gemalte Gegenstand, sondern die Erinnerung und Wiedergabe der Seherfahrung selbst. Wenn wir die verklärte Präsenz des Malers in dieser Erinnerung spüren, ganz gleich, ob es sich um ein abstraktes oder ein gegenständliches Bild handelt, dann wird es mit Sicherheit eine Wirkung haben.
Kovács‘ Gemälde sind zeitgenössische Stillleben, die die Einsicht vermitteln, dass der Mensch ohne Natur nicht leben kann, gleichzeitig aber auch darauf hinweisen, dass es für uns unmöglich ist, dorthin zurückzukehren, so romantisch der Slogan „Zurück zur Natur“ auch klingen mag. Aber nicht nur zur Natur können wir nicht zurück, auch die Malerei des Goldenen Zeitalters ist für uns für immer verloren. Statt Harmonie ist es die Spannung im Gegensatz von figurativen und ungegenständlichen Details, die in diesen Bildern am schönsten ist: Die Ästhetisierung der figurativen Details verleiht den Formen der Natur menschliche Qualitäten, während die organische Kraft der Natur in den instinktiven Pinselstrichen des Hintergrundes spürbar wird. Wenn wir Wassily Kandinskys Gedanken zu den Gemälden weiterspinnen, können wir uns sogar vorstellen, dass der Künstler den fragmentierten, für die menschliche Ästhetik unverständlichen, aber dennoch wunderschönen Klang des Vogelgesangs mit Farben wiedergibt. Für mich sind die hier gezeigten Bilder ein lebendiger Beweis für die außergewöhnliche Kraft der Kunst. Einer Kunst, die allein in der Lage ist, die Unterschiede zwischen Mensch und Natur im Kunstwerk zu einer harmonischen Einheit zu formen.
Nach diesen Ausführungen wünsche ich uns nun eine inspirierende Ausstellung mit interessanten Gesprächen.
Ich eröffne hiermit die Ausstellung.
János Schneller
Budapest, 10. Oktober 2023.